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Masaccio, die Perspektive und Europa
Ein Versuch über den Bilderrahmen
Leander Kaiser, 1988/2006
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Augustinus hat wohl recht damit, dass Vergangenheit und Zukunft nur in der Gegenwart existieren, weil die Vergangenheit bloß erinnert, die Zukunft bloß vorausgedacht werden kann. Wenn Belting, von Augustinus ausgehend, gerade der Ikone eine Position unüberbietbarer Gegenwärtigkeit zuspricht, weil sie an ein Vergangenes erinnert (das Erdenwallen Jesu oder eines Heiligen) und eine Zukunft mit Glaubensgewissheit verheißt (die Wiederauferstehung und Erlösung) und beides im Gruß und Verehrung des Heiligen gegenwärtig ist, so übersieht er, dass diese Gegenwart genau in dem Grade, als sie Vergangenheit und Zukunft umfasst, eine Abwendung vom Diesseitigen ist, genau jenen Zerfall in eine schlechte Welt und ein gutes Jenseits vollzieht, von dem Hegel und Dvorak sprechen – denn die Gegenwart als konkrete Vermittlung ist tätig, Handeln und Denken, wirkliche Subjektivität, und gerade diese Geistesgegenwart ist es, die der Christus des Masaccio an den Tag legt.

3. Die Kunstgeschichte und die Perspektive

Was die Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts über die Raumdarstellung in der Renaissance zu sagen haben, ist das Produkt eines Sehens, das sich nicht sieht. Die Sinne der Theoretiker sind keine theoretischen Sinne. Ihr Gewährsmann ist gewöhnlich Leon Battista Alberti: „Ich beschreibe ein Rechteck von beliebiger Größe, dass ich mir als offenes Fenster vorstelle, durch das ich alles sehe, was darauf gemalt werden soll.“ (Zit. nach Panofsky, Renaissancen, S. 127)

Wenn ich in einem Raum weit genug zurücktrete, um alles, was sich mir im Fenster zeigt, auf einem Blick zu überschauen, entspricht meine Anschauung weitgehend einem perspektivisch konstruierten Bild oder einer Fotografie – einmal abgesehen, von unserer Zweiäugigkeit und der Unmöglichkeit Augenbewegungen ohne weiteres Hilfsmittel wie ein Visier auszuschalten. Der perspektivische Raum wäre also der Raum jenseits des Raumes, in dem ich mich selbst befinde, und ich betrachte ihn durch den Rahmen, der beide Räume trennt und das Bild des äußeren Raumes begrenzt.

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