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Masaccio, die Perspektive und Europa Ein Versuch über den Bilderrahmen Leander Kaiser, 1988/2006 pages: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 | 22 | 23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34 | 35 | 36 | 37 | 38 | |
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Ewigkeit ist Zeit, die alle Zeit in sich schließt. Sie ist aufgehobene Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie ist die Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft. Die Gegenwart als diese Vermittlung ist die Ewigkeit. Ihre Darstellung ist, dass sie ihre Momente aus sich entlässt, zur Einheit zurückbringt und so fort: der zirkuläre Prozess oder der Reproduktionsprozess ist die Gegenwart als Ewigkeit. Sie ist dieser Ring, der die anderen Ringe in sich schließt. Dass die wahrhafte Gegenwart die Ewigkeit ist, scheint mythisch, wenn Gegenwart nicht als zirkulärer Prozess gefasst wird, der die mythische Zeit im Bild aufhebt. Daher ist Ewigkeit die Zeit nur in der Objektivierung der Gegenwart für uns : der Begriff der Ewigkeit beschreibt eine religiös-ästhetische Erfahrung. „Zu den zwei Welten, die das menschliche Wollen, Fühlen und Denken im Mittelalter beherrschten, zu der Welt des begrenzten Diesseits und des ewigen Jenseits, gesellte sich eine dritte, die der künstlerischen Konzeption.“ (Max Dvorak, zit. nach Abels S. 58) Dass das Diesseitige zugleich unendlich wie immer wieder endlich ist (eine Unendlichkeit, die aus lauter endlichen Größen zusammengesetzt ist), dieser Widerspruch wird von der Perspektive auf paradoxe Weise gelöst. Die Parallelen, die sich mathematisch gesehen erst im Unendlichen schneiden sollen, treffen sich im optischen Brennpunkt. Durch dieses Quidproquo ist das Unendliche ein Punkt im Diesseits geworden und umgekehrt geht das Endliche so gewissermaßen bis in Unendliche fort. Der Raum ist zugleich als beschränkte Kubatur und als Form der transzendentalen Sinnlichkeit gesetzt. Man könnte sagen: Das Auge Gottes, das Unendliche als Jenseits des Endlichen, das jüngste Gericht, ist ins Sinnliche gerutscht: durch die Malerei ist das Auge Gottes in der sinnlichen Welt, das Sinnliche einem diesseitigen Urteil letzter Instanz unterworfen: die Malerei ist der Weltenrichter. Das wird offenbar in Michelangelos Jüngstem Gericht . Das Weltgericht findet in der ewigen Gegenwart der Malerei statt. |
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