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Masaccio, die Perspektive und Europa Ein Versuch über den Bilderrahmen Leander Kaiser, 1988/2006 pages: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 | 22 | 23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34 | 35 | 36 | 37 | 38 | |
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Fest steht, dass es sich nicht nur um eine neuzeitliche Anpassung an Uhr, Schreibrichtung und Straßenverkehr handelt. Am absurdesten ist der angenommene Bezug zur Sonnenbewegung: da müssten wir in der nördlichen Hemisphäre immer nach Süden blicken – die Menschen im Süden müssten entsprechend die Augen von rechts nach links schweifen lassen. Tatsache ist, dass das Gesichtsfeld des linken Auges etwas größer ist; es scheint, dass das, was von dort kommt, schneller Aufmerksamkeit erregt, wogegen das rechte Auge eher ein Ziel fixiert. Es ist klar, dass der Ort höchster Sehschärfe (der Bereich, in dem sich die Sehfelder beider Augen überschneiden) wandern muss, um ein genaues Bild der Umgebung zu ermöglichen. Wenn das Blickfeld auch in der Wanderbewegung annähernd symmetrisch zwischen beiden Augen aufgeteilt bleibt, so ist die Bewegung doch nur als asymmetrische möglich in Rücksicht auf die Komplexität des Sichtbaren. Die grundlegende Asymmetrie ist die der Zeit, aber die Zeit ist gegen rechts und links indifferent. Die Rückkehr zum Ausgangspunkt auf einer elliptischen Bahn stellt die Symmetrie als zirkuläre oder Rotationssymmetrie wieder her. Diese Asymmetrie der Augenbewegung hat wohl zu tun mit der Asymmetrie der Körperhälften, einer Zuordnung von defensiven und offensiven Aufgaben an die beiden Arme. Mehr noch aber steht die schweifende Bewegung des Blicks in Beziehung zu unserer Fähigkeit Um - etwas – herumzublicken und Uns einen Überblick zu verschaffen . Ist das Bewusstsein nicht selbst zunächst ein Sehen des Sehens – also das Wissen , dass ich etwas nicht nicht sehen kann, eine Suche nach geeigneten Sicht- und Aussichtspunkten, unter Vermeidung von Situationen wo ich den Überblick verliere, eine Wahl, die nicht bloß instinktiv sondern zunehmend vorausschauend getroffen wird. Das Bewusstsein rekonstruiert sich ja in jedem Augenblick das Gesehene auf Grundlage vorausgeträumter Hypothesen (Wolf Singer), also Antizipationen: Das sehende Bewusstsein schweift so in sich herum wie der Blick und der Organismus, der schaut, herumschweift. |
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