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Das Goldene und das Dunkle
Ein Versuch über den Bilderrahmen
aus: Leander Kaiser, Das Goldene und das Dunkle, 1988
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SCHON DER FRÜHGOTISCHE Katechismus des französischen Bistums Tréguier gab auf die Frage, was man tun soll, wenn man eine Kirche betreten hat, die Antwort: „Man soll Weihwasser nehmen, das Allerheiligste anbeten und dann in der Kirche herumgehen und die Glasfenster betrachten.“ Bemerkenswert ist die explizite Trennung der Betrachtung von den Kulthandlungen und vom persönlichen Gebet. Die Botschaft der Glasfenster richtete sich von vornherein an die Frömmigkeit jedes Einzelnen und nicht nur an die Kirchengemeinde, die das schöne Kunstwerk ja nur zerstreut, als Beiwerk des Kults rezipieren konnte.

Erst recht ergibt sich die Orientierung des Bildes auf den einzelnen Betrachter aus der Anwendung der Zentralperspektive zur Organisation der Bildwirklichkeit in der Frührenaissance. Die Zentralperspektive schreibt von vornherein einen privilegierten Punkt der Betrachtung vor, von dem aus die Sehstrahlen des Betrachters und die Fluchtlinien der Perspektive so auf der Bildoberfläche zusammentreffen, daß der imaginäre Raum des Bildes sich als Erweiterung des alltäglich-realen Raums, in dem sich der Rezipient befindet, darbietet. Es ist immer nur ein Hauptaspekt, unter dem sich das Ganze der Gestaltung als solches offenbart.

Der Rahmen des neuzeitlichen Tafelbilds erfüllt ziemlich exakt die Aufgabe, den Betrachter zur konzentrierten Kontemplation der intensiven Welthaftigkeit des Bildes zu bringen. Die Erhabenheit des Rahmens über die Bildfläche verhindert die Sicht aus spitzem Winkel und schränkt damit von vornherein die zufällige Wahrnehmung ein. Der Abfall des Rahmenprofils zur Bildfläche hin unterstützt die Tiefenwirkung der Malerei und hilft (zusammen mit der Symmetrie des Rahmens) mit, den Betrachter richtig vor dem Bild zu zentrieren. Man kann von einem Trichter – der nicht unbedingt trichterförmig sein muß – sprechen, durch den der Blick des Betrachters in das Bild hineingezogen wird. Die Sogwirkung der Perspektive wird verstärkt und greift mit Hilfe des Rahmens in den Raum vor dem Bild aus.

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