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Das Goldene und das Dunkle Ein Versuch über den Bilderrahmen aus: Leander Kaiser, Das Goldene und das Dunkle, 1988 pages: 1 | 2 | 3 | 4 | 5 | 6 | 7 | 8 | 9 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17 | 18 | 19 | 20 | 21 | 22 | 23 | 24 | 25 | 26 | 27 | 28 | 29 | 30 | 31 | 32 | 33 | 34 | 35 | 36 | 37 | 38 | 39 | 40 | 41 | 42 | 43 | 44 | 45 | |
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Die Raumdarstellung in der antiken Malerei stützt sich allerdings auch nicht auf eine das ganze Bild erfassende durchgängige Konstruktion; es ist eine „Ad-hoc-Perspektive“, die den Dingen unter verschiedenen Aspekten, von verschiedenen Fluchtpunkten her angelegt wird. Es wird hinausgemessen in den Raum; aber der Raum selbst wird nicht vermessen, entzieht sich noch der künstlerischen Wissenschaft. Dieses Auseinander und Nacheinander, dem mehrere gleichberechtigte Standpunkte und Aspekte im rezeptiven Nachvollzug entsprechen, wird nun überwunden durch eine kohärente Bildererzählung, die simultan unter einem Hauptaspekt rezipiert werden kann. Was wir im Fenster und in einem zentralperspektivisch organisierten Bild sehen, erfüllt die klassische Forderung an das Drama nach der „Einheit von Zeit, Ort und Handlung“. Bei der antiken Malerei entsteht immer wieder der Eindruck, daß an etwas Abwesendes, das eigentlich die Hauptsache ist, erinnert werden soll, sei es an literarische Vorlagen, sei es an die ästhetischen und religiösen Erlebnisse, die der zeitgenössische Rezipient im Rahmen kollektiver Ereignisse – des Theaters, der Feste usw. – gehabt hatte. In ähnlicher Weise können die Bilder in der mittelalterlichen Kirche, die Heiligengeschichten erzählen und die Sakramentsgeheimnisse symbolisch darzustellen suchen, als Erinnerung an die Kulthandlungen und als illustrative Handhabe für mündliche Erläuterungen verstanden werden. Die kontemplative Neugier, die durch den Blick aus dem Fenster befriedigt wird, richtet sich dagegen auf Ereignisse mit einem gewissen Neuigkeitswert, die das Leben gegenwärtig darbietet. Analog dazu hat auch das, was wir im Bild-Fenster sehen, den Charakter eines Gegenwärtigen, dessen präsenten Sinn wir durch die Betrachtung des Bildes erst in Erfahrung zu bringen suchen. Diese Identität von sinnlicher und intellektueller Erfahrung ist in den farbigen Glasfenstern der mittelalterlichen Kirchen vorgebildet. In der Wirkung der Glasfenster verbindet sich die erzählerische Darstellung der Glaubenswahrheiten (ihre Funktion als „bibula pauperum“) mit der Erleuchtung, die den Betrachter in Gestalt des farbigen Lichts erreicht. Dieses gilt als Analogon des Gotteslichts. |
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