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Eine ästhetische Religion? Schönberg und der moderne Irrationalismus
Referat beim Symposion Schönberg und sein Gott im Arnold Schönberg Center Wien
Leander Kaiser, Wien, Juni 2002
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1.

Meine Einladung zu diesem Symposium verdankt sich einem Referat über Kandinsky und die Musik, das ich Ende letzten Jahres in Moskau gehalten habe. Dort habe ich die Theorie der abstrakten Malerei, die Kandinsky in "Das Geistige in der Kunst" und anderen Schriften formuliert hat, im wesentlichen als Produkt eines gnostischen Denkens charakterisiert, dessen zeitgenössische Hauptquellen theosophische und anthroposophische Schriften waren. (1) Für diese Einflüsse hatte Hartmut Zielinsky (2) schon 1980 ausreichend Beweismaterial vorgelegt, ohne aber die Strukturen gnostischen Denkens in Kandinskys Schriften selbst zu dechiffrieren und ohne vor allem das "große Reale" und das "große Abstrakte" als gnostisches Begriffspaar zu erkennen. Zielinsky sieht dieselben Einflüsse auch im Denken Schönbergs als erwiesen an, kann dafür aber weniger direkte Beweise vorlegen als bei Kandinsky.

Kandinsky und Schönberg waren beide ohne Zweifel Irrationalisten, moderne, weil ihre Wendung gegen den Verstandespositivsmus des 19. Jahrhunderts nicht auf einer traditionellen religiösen Haltung beruhte. Wenn sich auch Schönberg später wieder dem alten Glauben genähert hat, so war ihm dieser doch nicht mehr selbstverständlich gegeben. Der moderne Irrationalismus der Zeit verband gnostische, okkulte und esoterische Spekulationen mit dem Glauben an einzelne wissenschaftliche Positivitäten – oder was man dafür gehalten hat: Rasse etwa, das Verschwinden der Materialität der Materie durch ihre Umwandelbarkeit in Energie, allerlei Schwingungen und Strahlungen, die bis heute zum fixen Inventar des Irrationalismus gehören. Rudolf Steiner wollte gar das "hellseherische Schauen" der Anthroposophie als wissenschaftliche Methode bezeichnet wissen. (3) Der pseudowissenschaftliche, zwischen Empirismus und Dogmatismus schwankende Stil der Schriften Kandinskys ist ziemlich typisch für den modernen Irrationalismus, erinnert mich zuweilen aber auch an J. W. Stalin. Apodiktisch ist wohl auch Schönberg in vielen seiner Aussagen, aber das scheint mir eher der Stil leidenschaftlicher Überzeugtheit eines für seine Wahrheit kämpfenden Menschen als der eines Dogmatikers.

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