Ganz verlassen wird aber auch hier nicht der Dunstkreis des perspektivischen Paradigmas. Hat doch die perspektivische Konstruktion immer schon den Standpunkt des Betrachters, seinen Abstand von der Bildoberfläche, Untersicht und Aufsicht einkalkuliert. Und dass die Malerei der Renaissance-Tradition den Sehsinn als einen leiblichen, die Leiblichkeit des Betrachters negiert hätte, ist auch durch häufige Wiederholung nicht zu beweisen. Die Negation des Körpers zu Gunsten einer reinen Wirkung auf die Seele ist erst eine Erfindung des klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts.
4.
Hat das perspektivische Modell des Bildes heute – angesichts der beliebigen Verfügbarkeit von technisch produzierten perspektivischen Bildern in Fotografie und Film – heute noch ein kritisches Potenzial? Ein kritisches Potenzial, wie es die Perspektive in der Zeit ihres Entstehens gegenüber dem religiösen Symbolismus und dem feudalen Ordnungsdenken ohne Zweifel hatte? (Denken wir nur an die perspektivische Isokephalie und die Überwindung der „Bedeutungsperspektive“.) Dass ein Bild nach den Regeln der Perspektive aufgebaut ist, kann heute vielleicht noch auf naive Gemüter Wirkung haben, als illusionistische Handarbeit Bewunderung erregen, aber das ist sicher keine kritische Position. Ein kritisches Potential sehe ich nur dort, wo die Perspektive ein Verfahren der Totalisierung der Bildelemente ist, das die Totalität, das Ganze des Bildes weder als Illusionsraum noch als Flächeneinheit voraussetzt. Wo sie dazu beiträgt, das Bild als Bewegung, Bedürfnis einer unerreichbaren Totalität für Rezipienten nachvollziehbar zu machen. Hier haben die großen Werke der alten Malerei durchaus ihre Gegenwart in der wissenschaftlichen und kunstfreundlichen Betrachtung; die Erfahrung und das Bewusstsein ihrer Leistungen stellen einen Widerstand gegen die technisch produzierte Bilderflut und die Hypostasierung der Gegenwartskunst dar. |