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Phantasie über ein Bild von Leander Kaiser

Veronika Seyr, Moskau 2001
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Ja, so sind die Bilder, dir richtigen. Lebendiger als Freunde. Das ist es, was Bilder können.

Ich weiß, dass ich nicht besonders aufmerksam bin gegenüber dieser Frau; andere würden sie zu ihrer Göttin ausrufen und ihr demütig dienen, huldigen und opfern. Immer bin ich zu erschöpft, um ihr Schalen mit Duftwasser, Rosenblüten, Kerzen und Räucherstäbchen hinzustellen, was sie sicher alles verdient hätte. Aber ich muss erst herausfinden, wer wem dienen, wer wem opfern soll. Und weil ich diese Frage schon lange nicht lösen kann, bleibt unser Verhältnis unbestimmt, verirrt sich mein Blick immer wieder zwischen den kippenden Beinen des Thonetstuhls und den zarten Extremitäten meiner Lebensfrau, dem Sterntalerröckchen und dem ungerichteten Blick. Schaut sie in ein schwarzes Loch, sieht sie es gerade jetzt an dieser Wand gegen Westen?

Meine Straße ist der Kutusowski Prospekt, der geradewegs vom Zentrum nach Westen zu den Schlachtfeldern von Porodino führt, wo sich General Kutusow Napoleon entgegenwarf, bevor der Franzose wirkliches, heißes Feuer über Moskau brachte. Jeder dieser glühenden Sonnenuntergänge entzündet aufs Neue diese Schicksalzeit und lässt sie schnell in der Dunkelheit der Nacht verschwinden. Ist meine Kippfrau das letzte Aufflackern des großen Feuers?

Wie ich so sitze, schaue und schreibe, schäme ich mich nicht für den platten Parallelismus meiner fragiler Position (ich in Russland) und ihrem Gegengleich von Körper und Stuhl, dem ständigen Austarieren einer prekären, unmöglichen Körperhaltung, ihrem unbestimmten Gesichtsausdruck, der Ausgesetztheit ihres Körpers, der zart und kräftig zugleich ist, dem kleinen Feuerzauber unter ihren Füssen, dem großen um sie herum und in ihrem Rücken. Genau so empfinde ich meine condition humaine: Was ich sehe, sagt mir: Ja, so ist es, hier und jetzt.

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