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Phantasie über ein Bild von Leander Kaiser

Veronika Seyr, Moskau 2001
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Ich sitze auf meiner ziegelroten Couch (schon wieder diese Farbe!), lausche zum wiederholten Male der Gluck`schen Orpheus- Klage über den unwiederbringlichen Verlust, wie ihn die Furien umfangen und wie er noch einmal Hoffnung schöpfen darf.

Natürlich sehe ich das Bild nicht wirklich, nicht so wie der Maler, nicht so wie ein ständiger oder zufälliger Besucher meiner Wohnung, und auch nicht wie die Putzfrau Valentina, die ich nicht davon abbringen kann, den dicken Holzrahmen mit einem nassen Lappen abzuwischen. Ob mein Hund oder meine Katzen irgendetwas auf den bunten eineinhalb Quadratmetern sehen, weiß ich nicht: Laika hält öfters ihre Nase schnüffelnd an die Leinwand – mag sie den Ölfarbengeruch? Murka spielt gern mit den auf der Rückseite herunter hängenden Leinenfäden.

Ich habe keine kunsthistorische Interpretation für dieses Bild, und wenn es eine gäbe, würde sie mich nicht interessieren. Ich ge/brauche es ausschließlich für die subjektiven Zwecke meiner Tages- und Nachtverfassungen. Ich schaue darauf, schließe das äußere Panorama mit ein und spüre einen Lebenskosmos, der meinem entgegenkommt, aus dem Bild herausfließt wie ein breiter Strom und sich in meinen Salon ergießt, allmählich in mich eindringt und ganz ausfüllt. Das ist gut, das tut gut, und es ist so einfach.

Die unteren Stockwerke der Ziegelbauten auf dem Ukrainskij Bulvar versinken nun im Schatten, dafür flammen die höheren noch einmal auf in einem Weltenbrand, in dessen Mitte die Frau auf ihrem Stühlchen schaukelt, fragil ihre Gestalt auf einem fragilen Möbelstück in einer Stellung, die natürlich jeder Statik widerspricht. In Wirklichkeit könnte sie sich keine ganze Sekunde dort oben halten. Aber gerade das ist das Faszinosum des Bildes: dieser andauernde Sekundenbruchteil, der sich in die Ewigkeit ausdehnt. So wie bei der Monumentalstatue des „Proletariers und der Kolchosbäuerin“ von Vera Muchowa auf dem Gelände der WDNCH (Ausstellung der Errungenschaften der sozialistischen Landwirtschaft),
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