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Phantasie über ein Bild von Leander Kaiser

Veronika Seyr, Moskau 2001
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er mit Hammer, sie mit Sichel; beide schwingen ihr Handwerkszeug hoch über ihre Köpfe, die Hüften und inneren Beine haben sie eng aneinander gepresst, mit den äußeren Beinen setzen sie zu einem schwungvollen Schritt über das Fundament hinaus an. Natürlich würden sie sofort vom Sockel stürzen – ich habe das statisch nachgeprüft und ausprobiert.

Beim Bild der Kippfrau geht es um ein Bekenntnis zur Künstlichkeit, wie alle Kunst ein Bekenntnis gegen die gelebte Erfahrung ist, aber auch eine konkrete Einmischung ins Hier und Jetzt meines Lebens. Vielleicht des Lebens überhaupt?

Die Frau trägt ein dünnes Trikotkleid, das die Oberschenkel kaum bedeckt. Ausgesetzt, setzt sie sich aus, brennt und lässt sich abbrennen, zeigt mit der rechten Hand nach Nord-Westen, mit der linken nach Südosten. Sucht sie in diesen Koordinaten Halt? Ich glaube, sie liegen nicht in den Wind- und Weltrichtungen. In welchen Orientierungen suchen ihre Hände Halt? Sucht sie denn überhaupt Halt? Ist es denn nicht umgekehrt: ich suche Halt bei ihr und bekomme ihn, trotz ihrer prekären Lage. Unter meinem Schauen verändert sich ihr Blick, und plötzlich ist da eine Aura, eine Offenbarung, ein Schock. Von einer Sekunde zur anderen hat sich die Frau mit dem offenen Gesicht in eine Ikone verwandelt.

Ich sitze ihr gegenüber und beginne den Gleichmut zu fühlen, der aus den leicht gespreizten Fingern herausweht. Oben berührt sie die Sonne, unten den Mond, dazwischen in den Rockfalten das Glitzern von Sternen, das Sterntalermädchen sammelt aus dem Universum auf, was sie nur bekommen kann. Das Gewebe ist fest, es fängt auch Kometen und Meteoriten auf, wenn sie denn in auf ihre Bahn kommen.

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