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Phantasie über ein Bild von Leander Kaiser

Veronika Seyr, Moskau 2001
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Was immer kippt und schaukelt strauchelt und doch nicht fällt, ist das Wechselspiel von Sehen, Denken und Fühlen, ein Austausch und Auflösen der Identitäten. Wo beginnt und endet das Bild, bin das schon ich und nicht mehr das Bild? Die Idee der Identität als einer fest gefügten Einheit hat mir nie eingeleuchtet. Die Kippfrau scheint mir eine dauernde Bestätigung dafür zu geben, dass sich der Einzelne nicht festlegen und einordnen lässt, sie hilft bei der Selbstbestimmung in der Unsicherheit; wahrscheinlich ist es das, weswegen ich mich mit ihr wohl fühle.

Jeder, der auf das Bild schaut, sieht natürlich etwas Materielles (oder auch nicht) wie die Leinwand, die Farben und die gemalten Formen. Ich erlaube mir die Illusion der Einzigartigkeit: aber nur ich empfinde etwas mit ihm, weil ich mit ihm lebe wie mit einem Freund, einer Freundin oder einem Hausgenossen. Ich gestehe eine Beziehung ein wie mit einem Mitbewohner, zu dem ich mich verhalte, so wie der Tag eben war: liebevoll, mitteilsam, neugierig, abwertend, streitbar, ablehnend, ignorant (und viele Tage auch ohne Gluck- und Händel-Helden), bedürftig, anschmiegsam, fordernd und versöhnlich. Ja, doch meistens versöhnlich und anschmiegsam wie die weiche Daunendecke der Frau Holle. Ein Trost- Kraft- und Sehnsuchtsbild. Mit Schrecken gestehe ich mir ein: nicht viel anders als die Pravoslawen mit ihren Ikonen familiären Umgang pflegen, worüber wir Atheisten immer gerne lächeln.

Spät sitze ich noch davor, weit nach Mitternacht, wenn ich versuche zu mir zu kommen, zu einer Ruhe nach den Tagestrubeln. Ich mag sie sehr, meine Sterntalerfrau mit dem offenen Gesicht und dem offenen Schoss: kommt nur, alle ihr Freuden des Lebens, überschüttet mich, ich bin bereit. Wo seid ihr? Wer oder was seid ihr? Und immer ist das Bild da und nichts anderes an der Wand, weil draußen ist es schon längst ganz dunkel geworden. Eine undurchdringliche Moskauer Nacht, und ich bin allein mit meiner Kippfrau. Hund und Katzen stoßen mich an, sie verlangen Zuwendung. Nur sie dort an der Wand will nichts. Ich bekomme alles freiwillig von ihr.

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