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Incidente sul fare del giorno oder Zwischenfall im Morgengrauen
Meditation über ein Bild von Leander Kaiser
(Die Königin von Saba)

Veronika Seyr, Moskau 2004
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Ich ging in meinem Salon mit einem ungerechtfertigten Groll, obwohl das Bild nichts mit dem zu tun hatte. Ich gestand mir ein, dass das Bild unschuldig war, die Ungerechtigkeit lag in meinem Blick und in meiner Taubheit für das „Morgengrauen“. Warum hatte er denn nicht die milde Morgenröte oder die verhüllende Dämmerung gewählt? Ich haderte mit meiner neuen, fremden Freundin, ich verstand sie nicht unter dem Titel Morgengrauen. Da stellte ich das Bild wieder einmal für viele Tage gegen die Wand. Ich erschrecke: wie das klingt, das gegen die Wand stellen: in meinem derzeitigen Gastland sollte man nichts und niemanden mehr gegen die Wand stellen! Und noch etwas machte mich wütend: dieser perverse Anspruch von Bildern, immer da zu hängen, ich möchte doch auch nicht immer dieselbe Musik hören oder dasselbe Buch lesen!

2. Rast

Eine Reisende macht Halt. Sie gebietet dem Chauffeur, an den Straßenrand zu fahren, damit sie aussteigen kann. Wir wissen es nicht: will sie die Landschaft betrachten oder will sie in die Büsche gehen? Will sie eine besonders schöne Aussicht fotografieren, einen Schluck Wasser nehmen aus einer Quelle, oder sich einfach nur die Füße vertreten nach einer langen, beengten Reise?

Ich weiß es nicht und sonst auch niemand. Sicher ist nur, dass sie aus der Sänfte ausgestiegen ist und um sich schaut, sehr selbstbewusst, unabhängig ist ihr Blick, die Füße in kleinen weißen Schühchen hat sie fest in den Boden gestemmt und die Arme entschlossen vor der Brust verschränkt. Warum leuchtet der Boden unter ihr auf? Auf dem Weg ins Tal ist die Nacht noch nicht vorbei, die Laterne neben ihr brennt hell wie ein Gestirn. Fragen, nichts als Fragen. Jeder Gedanke dazu öffnet ein neues Rätsel. Warum ist ihre Kleidung perfekt weiß und faltenlos, ihr Tunika-artiges Obergewand und ihre weite Hose fallen locker um sie. Sie müssten doch nach der langen Reise in der engen Sänfte zerknittert sein. Bei jeder Frau, in jedem Gefährt.

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