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Incidente sul fare del giorno oder Zwischenfall im Morgengrauen
Meditation über ein Bild von Leander Kaiser
(Die Königin von Saba)

Veronika Seyr, Moskau 2004
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Aber bei dieser Reisenden ist alles anders. Denn sie ist keine gewöhnliche Reisende, keine gewöhnliche Frau. Woran das zu erkennen ist, das sind der Blick und die Haltung. Sie sieht mich gerade heraus an, fast herrisch, sicher aber selbstbewusst. Sie sieht mich an wie nur ein Mensch ohne Nöte und Sorgen blicken kann. Mit Sternenaugen durchdringt sie die Dämmerung. Dabei sieht sie etwas, was ich nicht sehen kann, und sie weiß etwas, was ich nicht weiß, sie sieht in die Zukunft und kennt die Vergangenheit. Vielleicht ist sie doch Eos, die Tochter des Hyperion und der Theia, die Schwester des Helios und der Selene, Gemahlin des Titanen Asträos, dem sie die vier Winde und den Morgenstern gebar. Eos, wie sie die Dichter schildern, eine herrliche, schöngelockte, rosenarmige, rosenfingrige Göttin, das Abbild der belebenden Morgenröte. In aller Frühe erhebt sie sich aus dem Lager des Okeanos und schirrt, mit safranfarbigem Mantel umhüllt, ihre Rosse Lampos = Glanz und Phaeton = Schimmer an den goldenen Wagen. Glanz und Schimmer – wie schön wäre doch dieser Name und wie passend! Die aufgehende Sonne wirft die ersten roten Flecken auf die Felsen und färbt den Himmel rosig, in dem das Grau noch nicht ganz gelöscht ist. Wie Palimpzeste oder wieder entdeckte Fresken in den Badehäusern von Herculanäum.

3. Rätsel

Die Königin von Saba macht Halt auf dem Weg nach Jerusalem – oder ist sie schon am Rückweg? Sie hat die Wagenladungen mit Gold und Edelsteinen bei König Salomo abgeladen und ihm das Wertvollste, den Samen des Weihrauchbaumes, geschenkt. Sie hat seinem Werben widerstanden und den Heimweg angetreten. Bei Josephus Flavius ist sie die Göttin des Südens, die aus Erzählungen von Salomos Weisheit erfahren hat und zu ihm reist. In der 27. Sure des Korans wird sie selbst zur Königin der Weisheit, und die kanaanäische Tradition macht sie zur Liebesgöttin. Am Runden Tisch von Evas meistgeliebten Töchtern feiert sie die Heilige Hochzeit, die Verbindung der Engel und Dämonen, von altem und neuem Testament, von Bibel und Koran, von Vergangenheit und Gegenwart.

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